Garantiert kein Glücksversprechen! Nur solange der Vorrat reicht!

Ihre Objekte und Rauminstallationen erzeugen eine ästhetische Erscheinung, in der das normierte Design der Massenprodukte, ihr alltäglicher Gebrauch und das Repertoire der bildenden Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts so beweglich über- und nebeneinander angeordnet sind, dass das „So tun, als ob“ der Werbung, die Wohnkultur anonymer Privatpersonen und die Tätigkeit der Künstlerin wie in einem Kaleidoskop, das der Betrachter vor seinem Auge hin- und herdreht, beständig in- und übereinander fallen und plötzlich zu leuchten beginnen

Hans Jürgen Lechtreck, Essen

„(…) zu seinen Füßen entdeckte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten sie zusammen zu Wunderdingen. (…)“
Peter Handke, Die Stunde der wahren Empfindung, Frankfurt/M. 1975, S. 81


Garantiert kein Glücksversprechen! Nur solange der Vorrat reicht!
Anmerkungen zu den Rauminstallationen von Gertrud NeuhausDer „Warenkorb“, den das statistische Bundesamt seiner Verbraucherpreisstatistik zugrunde legt, enthält eine repräsentative Auswahl derjenigen Waren und Dienstleistungen, die von deutschen Haushalten gekauft, konsumiert und in Anspruch genommen werden. Dabei besitzt der Begriff eine Anschaulichkeit, die an einen ganz bestimmten Menschen und seine täglichen oder wöchentlichen Einkäufe denken lässt. Bei einem Blick auf den „Erhebungskatalog“, der die Zusammenstellung dieses „Warenkorbes“ festschreibt, will es jedoch nicht gelingen, sich eine Familie oder Einzelperson vorzustellen, von der die Gesamtheit oder auch nur die überwiegende Zahl der darin verzeichneten „Güter“ nachgefragt wird: „Brötchen zum Fertigbacken“, „Scanner, Laserdrucker, Digitalkamera“, „Blutdruckmessgerät für das Handgelenk“, „Preselection-Tarife“, „Monatsbeitrag für den Kinderkrippenbesuch“, „Ambulante Pflege, Essen auf Rädern“, „Pizzaservice“ und „Sonnenstudio“. Zu verschieden sind die Bedürfnisse, die beispielsweise von high- tech-Geräten auf der einen Seite und sozialen Dienstleistungen auf der anderen Seite befriedigt werden.

Genau diese Personalisierung von Waren (und Dienstleistungen), die bei der Lektüre des amtlichen „Erhebungskatalogs“ ebenso wenig gelingen will wie in den Gängen zeitgenössischer Supermärkte, unternimmt Gertrud Neuhaus mit ihren Objekten und Rauminstallationen, für die sie gefundene Alltagsgegenstände, Verpackungen, alte Möbel und Stoffe verwendet, die von ihr bearbeitet und um eigene Bilder ergänzt werden.

Das Installationsprojekt Edeltraut erinnert an Momentaufnahmen einer möblierten Wohnung, die erst vor kurzem und nur vorübergehend verlassen wurde. Wie in früheren, raumbezogenen Arbeiten hat die Künstlerin hier ein Arrangement geschaffen, das als „ein eingefrorener Zustand“ erscheint, so „als wäre es gerade noch bewegt worden“ (Gertrud Neuhaus). Das scheinbar Zufällige und Beiläufige zielt darauf ab, die künstlerische Gestaltung der einzelnen Gegenstände und ihrer Zusammenstellung nicht sofort sichtbar werden zu lassen: „Das macht man ja auch zu Hause so: Man stellt hier etwas hin, man stellt da etwas hin.“ Gertrud Neuhaus hat deshalb ihre Vorgehensweise einmal als „einrichten“ beschrieben. Bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es sich nicht um die Rekonstruktion oder realistischen Fiktion einer privaten Sphäre – eines „Zuhause“ – handelt, sondern um einen „Kunstraum“, der sich konsequent jeder anekdotischen Lesart verweigert.

Die Rauminstallationen von Gertrud Neuhaus sind formal und farblich durchkomponierte, begehbare Bilder, die darauf abzielen, dass sich der Besucher durch sie hindurch bewegt und dabei das Zusammenspiel ihrer wiederkehrenden Formen und Farben beobachtet: Da war doch schon mal ein dunkler Schrank, ein bestimmtes Grün (oder Gelb), ein ähnlicher Zusammenklang zweier Farben!

Großen Anteil an dieser Wirkungsweise haben  insbesondere die zahlreichen Einzelobjekte, die Bestandteil der Installationen sind und schnell übersehen werden können (Einige von ihnen gehören zum festen Repertoire der Künstlerin und werden von ihr in immer neue Zusammenhänge gestellt). Die Künstlerin stellt sie aus Massenprodukten oder Verpackungen von Massenprodukten her, deren Form- und Farbwerte sie durch Übermalungen und Umkehrungen, Paarbildungen und Reihungen abstrahiert. Gleichwohl bleibt die Beschaffenheit des Ausgangsmaterials soweit sichtbar, dass der Betrachter sie erkennen und mit bestimmten Warengruppen und Marken in Beziehung setzen kann.

Ein weiteres Kompositionsprinzip sind gerade demonstrativ vorgeführte Maßstabswechsel und Größenunterschiede. Für Edeltraut und für die etwas frühere Installation Hedwig, die 2004 anlässlich der Ausstellung Wochenmarkt im Westfälischen Kunstverein in Münster gezeigt wurde, hat Gertrud Neuhaus Puppengeschirr und Puppenmöbel verwendet, und sowohl hier als auch in ihren anderen raumbezogenen Arbeiten finden sich Kombinationen von formgleichen oder annähernd formgleichen großen und kleinen Alltagsgegenständen.

Auch die weiblichen Vornamen in den Werktiteln dürfen keinesfalls biografisch gedeutet werden. Sie gehören vielmehr zu dem von der Künstlerin verwendeten Wortmaterial ihrer Objekte, das aus den Übermalungen hervorgehobenen oder veränderten Markennamen und Beschriftungen der diesen Objekten zugrunde liegenden Massenprodukten und Verpackungen gebildet wird und ebenfalls häufig aus Vornamen besteht: „Margot“ (Alkohol), „Marlene“ (Marmelade), „Markus“ (Kaffee).

Mehr noch als die ihrerseits durch Übermalung hervorgehobenen Form- und Farbwerte der Objekte ist dieses Wortmaterial ein Indiz für die ironische Grundhaltung, die Gertrud Neuhaus gesamte künstlerische Tätigkeit kennzeichnet und sich gegen diejenigen Glücksversprechungen der bildenden Kunst wendet, die denen der Werbung immer ähnlicher geworden sind. Mogelpackungen werden zu minimalistischen Skulpturen, leere Glaskonserven verwandeln sich in kinetische Objekte und gestische Malerei rückt in die Nähe eines mit Farben verschmutzten Bettlakens.

Ihre Objekte und Rauminstallationen erzeugen eine ästhetische Erscheinung, in der das normierte Design der Massenprodukte, ihr alltäglicher Gebrauch  und das Repertoire der bildenden Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts so beweglich  über- und nebeneinander angeordnet sind, dass das „So tun, als ob“ der Werbung, die Wohnkultur anonymer Privatpersonen und die Tätigkeit der Künstlerin wie in einem Kaleidoskop, das der Betrachter vor seinem Auge hin- und herdreht, beständig in- und übereinander fallen und plötzlich zu leuchten beginnen: und mit einem Mal ist das Gold der Markenzeichen, der Batterien, Kaffeesahnedöschen, Halsmanschetten von Bierflaschen etc. kein Talmi mehr, sondern ermöglicht „Stunden der wahren Empfindung“ – auch wenn es sich längst nicht mehr um goldene Zeiten handelt.

Für den Katalog Edeltraut 2005