Gertrud Neuhaus arbeitet mit Material, das sie findet, nach dem sie sucht: Möbel, Stoffe, Gegenstände, Waren und Produkte des alltäglichen Gebrauchs. Aus solchem Repertoire leitet sie meist ortsbezogene Installationen her. Diese zeigen sich von einer ebenso komplexen wie prekären Ordnung, merkwürdig eingefroren im Zustand des Vorläufigen, Provisorischen, und doch sind sie von kompositorischen Prinzipien sichtbar durchdrungen. Denn die Verwandlungen, die die Künstlerin an den Dingen erprobt, beruhen zu allererst auf bestimmten, wiederkehrenden, formalen Operationen: das Stapeln und Aufreihen ähnlicher Objekte, das Übermalen und Abstrahieren von Verpackungen und Etiketten, das Herausstellen von Formverwandtschaften ungleicher Gegenstände – nicht zuletzt führen solche und andere Handlungen dazu, dass Sinn und Funktion der Bestandteile immer wieder empfindlich verändert werden. Was somit von Mal zu Mal entsteht, sind eigensinnige, sperrige Raumbilder, verwirrend zunächst in ihrer formalen und semantischen Vielfalt. Je länger man sie jedoch betrachtet, ihre Details studiert und ihren Verästelungen folgt, desto deutlicher zeigen sie ihren inneren Bauplan, ihre dramaturgische Struktur, die sich aus Sammlungen und Streuungen, aus Verlangsamungs- und Beschleunigungsstellen, aus präzisen Setzungen ebenso wie aus Brüchen und unbestimmten Zwischenräumen ergeben.
Über die Jahre ist so ein großer, stetig wachsender Fundus an Objekten entstanden, die manchmal als Requisiten ihren festen Platz in einer bestimmten Inszenierung haben, manchmal als bewegliches Inventar von Raum zu Raum weitergereicht werden – oder gar den Status von Einzelstücken erhalten, die auch separat in Erscheinung treten können. Dies gilt etwa für die Birne als Birne, die in ihrer Klarsichtbox zur „Kellerlampe“ wird, für das kleine, grimmige Monster aus gestapelten Keksen oder „Die Schüssel zum Glück“, ein Objekt aus leeren, vorwiegend blauen Pappaufstellern, deren Beschriftungen in die kuriose Sprachwelt der Markennamen und Werbeversprechen führt. Wie hier reichen oft schon minimale Manipulationen, um den Gegenständen eine völlig neue Geltung zu geben, sie umzudeuten und aus den starren Bezügen bloßer Zweckdienlichkeit zu befreien.
Und auch die Fotografie spielt in diesem Prozess der Weitergabe und Verwandlung immer wieder eine Rolle – etwa dann, wenn Gertrud Neuhaus Details früher Inszenierungen mit der Kamera festhält und an anderer Stelle neu arrangiert. Entstanden ist auf diese Weise eine Wand aus kleinformatigen, goldgerahmten Fotos, wobei jede Aufnahme für sich genommen den Charakter eines sorgsam arrangierten Stilllebens hat. Wir sehen zum Beispiel einen grünen Plastikaschenbecher voller Cashewkerne, dahinter eine braune, zylindrische Kerze, ferner zwei gleichgroße, kreisrunde Objekte: eine Baumscheibe und einen mit grünem Filz beklebten Untersetzer, auf denen ein Schokoladenmaikäfer, eine Portionspackung Kaffeesahne und eine leere, gläserne Gewürzdose drapiert sind. Zusammen ergeben sie ein karges Ensemble, eine Situation wie aus einer Gartenlaube oder einem Hobbykeller, eben dort, wo lauter ausrangierte Gegenstände ihr zweites, etwas freudloses Dasein fristen.
Zugleich aber hat Gertrud Neuhaus mit diesem Arrangement ein Gruppenbild von zwingendem Farb- und Formbezug geschaffen, das fast wie eine „sacra conversazione“ strengen kompositorischen Prinzipien unterliegt. Von hier zum gemalten Stillleben ist es dann nur ein kleiner Schritt, und tatsächlich ist zuletzt eine Reihe von Papierarbeiten entstanden, die Blumentöpfe – einzeln oder in überschaubaren Gruppen – vor monochromer Fläche zeigen. Auch hier geht es um Muster und Farbigkeit, um die Relation von Oberfläche und Volumen, darum, sich der einfachen, verfügbaren Gegenstände malerisch zu vergewissern. Dafür greift Gertrud Neuhaus bevorzugt auf solche Motive zurück, die sie als reale Objekte bereits in ihren Installationen verarbeitet hat, so dass die Malerei – analog zur Fotografie – immer auch der Reflexion und Verdichtung schon erprobter, vertrauter Sachverhalte dient.
Andererseits spielt das Malerische auch jenseits klassischer Bildformate eine bedeutende Rolle im plastischen Werk der Künstlerin, sei es als farbige Fassung von Oberflächen, etwa von Bier- und Shampooflaschen, sei es als raumschaffende Wandmalerei eines perspektivisch fluchtenden Schlafzimmers, als Imitat einer Mauer aus Glasbausteinen oder – vor allem – als Textur jener Vorhangstoffe, die Gertrud Neuhaus wiederholt verarbeitet hat. Dabei ist der Vorhang schon für sich betrachtet ein komplexes Motiv, nicht nur als Gestaltungsmittel im Innenraum, wo er als Lichtschleuse dient und fremde Blicke abhält, sondern auch als spezieller Topos der Malereigeschichte. Hiervon berichtet eine berühmte Künstlerlegende der Antike: der Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios, bei dem es Letzterem gelang, ein Stück Stoff so täuschend echt zu malen, dass sein Kontrahent danach griff, um es in Erwartung eines dahinter befindlichen Bildes zur Seite zu ziehen. Aber der (gemalte) Vorhang war das Bild selbst – und erzeugte dadurch eine vollkommene Augentäuschung.
Wenn Gertrud Neuhaus den Vorhang nun ihrerseits zur Bildfläche macht, indem sie ihn mit Mustern und Figuren – seinem Faltenwurf entsprechend – bemalt, so verfügt sie damit über ein sehr reales Element, das sie raumdramaturgisch auf vielseitige Weise verwenden kann. Denn die große, bewegte, farbige Fläche lässt sich separieren und integrieren; sie setzt der Ansammlung von kleinen Details eine monumentale, wenn auch leichte Form als Blickfang entgegen, die ebenso der Verhüllung wie der Offenbarung dienen kann. Das große Spektrum solcher Einsatzmöglichkeiten zeigt sich mit Blick auf zwei Inszenierungen der letzten Jahre: einerseits die Arbeit für das Foyer der Städtischen Bühnen Münster, wo ein dunkel gemusterter Vorhang den Hintergrund abgab für eine strenge, farbreduzierte Reihung von Schränken und Elektrogeräten, auf denen vereinzelt Topfpflanzen standen, andererseits das „Stillleben“, wo eine nunmehr unbemalte Gardine aus weißer Gaze einer Sammlung von Gegenständen soweit „vorgehängt“ war, dass nur eine schmale Zone zum Boden unverhüllt blieb.
Während der Vorhang am ehesten an einen privaten Wohnraum (aber auch an eine Bühne) denken lässt, erinnern andere Installationen in ihrer Gesamterscheinung stärker an einen Marktstand oder einen Kiosk, an improvisierte Verkaufsstellen also, wo auf Tischen und Regalen sonderbare Sortimente feilgeboten werden. Denn ohne Frage hat Gertrud Neuhaus ein besonderes Gespür für die ambivalente Ästhetik der Warenwelt, für Super- und Wochenmärkte, für das Schöne, Bunte und Verheißungsvolle, aber auch für die Schäbigkeit, die der Kommerz überall hervorbringt. Dann wieder haben ihre Inszenierungen mit dem Vergnügen von Kindern zu tun, sich auf engstem Raum einen Laden oder eine Bude einzurichten, wobei den verfügbaren Gegenständen in diesem Bauprozess ganz neue Funktionen und Bedeutungen zugedacht werden. Auch gehört hierher der wertschätzende Sinn für die Kostbarkeit, die gerade den bescheidenen Materialien innewohnt – etwa den Verpackungen von Pralinen, die im Licht ihren goldenen Glanz verströmen. Ein ähnlicher Effekt entsteht, wenn Gertrud Neuhaus eine alte Kaffeemaschine mit einem gemalten Dekor aus feinem Rankenwerk versieht oder einen ganzen Boden wie im Schlaraffenland aus Tafeln heller und dunkler Schokolade gestaltet. Dann wird der Umgang mit den Dingen zum glücklichen Spiel, ein Spiel am Rande des Alltäglichen, mit dem sie der zweckbestimmten Welt ganz neue, ungeahnte Optionen abgewinnt.
Für den Katalog Es war Romantik 2011