Der Triumph der Beiläufigkeit

Was für die gardinengenerierte Unsicherheit gilt, gilt in noch stärkerem Maße für die Tapeten: Neuhaus buchstabiert alle denkbaren Varianten durch, das Bild auf der Tapete, das Bild als Tapete, die Tapete als Bild, klein im Rahmen oder deckenhoch an der Wand. Und der Betrachter kennt sich weder in der Topographie des Zimmers noch der Typologie der Gattungen länger aus.

Stephan Trescher, Paderborn

Selbstgemachte Kalender, vorzugsweise solche mit Photographien, sind äußerst beliebte Weihnachtsgeschenke für kreative Amateure, manchmal schön, meistens persönlich und selten professionell.

Kunstkalender können immerhin als Einstiegsdroge für den bildungsbürgerlichen potentiellen Sammler gelten, jedenfalls für jemanden, der sein Heim mit Kunst schmücken möchte. Dafür fängt man in der Regel mit preisgünstigen Reproduktionen an, die man einzeln als Plakat oder in Serie, eben als Kalender erwirbt.

Der sprichwörtlich gewordene Apothekenkalender dagegen (den man unter Umständen auch von Sparkassen oder dem Einzelhandel aufgenötigt bekommt) ist bekannt für triviale bis kitschige Photographien im Zwölferpack, vorzugsweise von Hundewelpen auf Alpenwiesen im Sonnenuntergang.

Weshalb unternimmt eine ernstzunehmende Künstlerin wie Gertrud Neuhaus dann den Versuch, jetzt schon zum vierten Mal, sich ausgerechnet im Format eines Kalenders zu präsentieren, anstelle eines herkömmlichen Kataloges oder selbstproduzierten Künstlerbuches? Der Reiz der Spiralbindung kann es nicht sein. Der einer kleinen, nummerierten Auflage wohl auch nicht, die kann man auch anderweitig erzielen. Was aber dann?

Ich behaupte: Es ist die Wohnlichkeit. Denn das ist sowohl Thema als auch Formprinzip von Gertrud Neuhaus’ Installationen, dass sie Kunst schafft, mit und in der man wohnen könnte. Solcherart die Hürden zwischen Kunst und Leben nicht niederreißend, aber doch ein paar Stellstufen tieferlegend.

Und so ein Kalender ist eben etwas, das weder in einer Vitrine, noch im Bilderrahmen oder im Regal seinen Platz findet, nicht im white cube eines Ausstellungsraumes, sondern in der jeweiligen individuellen Wohnung, direkt an der Wand, mitten im Leben des Betrachters.

Das Alltägliche und höchst Niedrigschwellige von Neuhaus’ Kunst führt häufig dazu, dass man über die vermeintliche Kunstlosigkeit stolpert. Und dann ist man der Künstlerin in die Falle gegangen. Denn hinter dem Banalen und einer bis zum Exzess getriebenen Beiläufigkeit verbirgt sich äußerste gestalterische Präzision und ein höchst genau operierender Sinn fürs Detail.

Den der Betrachter sich erst einmal erarbeiten muss. Sei es, dass er schlicht der Augentäuschung auf den Leim geht, wie im Oktober bei den Einmachgläsern in rot und grün, die eben keine Konserven enthalten, sondern Farbe. Es handelt sich hier um Malerei im Innern der Gläser. Oder das Licht hinter dem Vorhang: Ist es die Sonne, nur eine gut getarnte Glühbirne oder ist der ganze Vorhang nur ein Photo?

Was für die gardinengenerierte Unsicherheit gilt, gilt in noch stärkerem Maße für die Tapeten: Neuhaus buchstabiert alle denkbaren Varianten durch, das Bild auf der Tapete, das Bild als Tapete, die Tapete als Bild, klein im Rahmen oder deckenhoch an der Wand. Und der Betrachter kennt sich weder in der Topographie des Zimmers noch der Typologie der Gattungen länger aus.

Oder das Gesetz der Korrespondenz, das Neuhaus’ Kunst wie diesen Kalender hier durchzieht: Formale, farbliche und inhaltliche Korrespondenzen bestehen

innerhalb der originalen Ausstellung, innerhalb eines davon gemachten Photos oder zwischen mehreren Photographien.

Darüberhinaus existieren auch Übereinstimmungen zwischen Monaten oder Jahreszeiten und dem jeweiligen Motiv (so ist z.B. die Luftschlangentapete im Karnevalsmonat Februar zu sehen) und der beiden Serien untereinander, also welche Doppelung aus Vorder- und Rückseite, aus Dortmund und Bad Bentheim, sich in einem Monat ergibt.

Ein bisschen nähert sich die Künstlerin damit dann doch den gestalterischen Prinzipien eines Buches, auch wenn man im Praxisgebrauch eigentlich nur im Moment des Umblätterns am Monatsbeginn jemals zwei Bilder gleichzeitig sieht bevor man sich für eines entscheidet.

Das zeitliche Nacheinander der Wahrnehmung von Neuhaus’ Rauminstallationen vor Ort wird so im Kontinuum der zweimal zwölf Kalenderblätter über ein ganzes Jahr gestreckt.

In dieser Zeitlupe entdeckt vielleicht auch der flüchtige Betrachter im scheinbar Schnoddrigen und Schmuddeligen, der vertmeintlich ärmlichen und angestaubten Ästhetik des Secondhandmobiliars, der gedämpften Farbigkeit der echten und gefälschten Haushaltsgegenstände, den fließenden Übergängen zwischen Bildern, Möbeln und Tapeten das Wesentliche: Die Schönheit.

Für den Kalender In einem unbekannten Heim 2016