Alles Theater!

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Birgt unsere Realität vielleicht theatrale Qualitäten, über die der vordergründige Blick zumeist achtlos hinweggleitet? Sind wir alle Regisseure unseres eigenen Da-Seins, unbewusst die Banalität des Alltäglichen in Szene setzend? Gertrud Neuhaus hat in ihren Arbeiten stets der strikten Trennung von Kunst und Leben misstraut, jener behaupteten Widersprüchlichkeit von vermeintlich echter Tatsächlichkeit und kunstvoller, damit zugleich künstlicher Fiktion.

Wolfgang Türk

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Birgt unsere Realität vielleicht theatrale Qualitäten, über die der vordergründige Blick zumeist achtlos hinweggleitet? Sind wir alle Regisseure unseres eigenen Da-Seins, unbewusst die Banalität des Alltäglichen in Szene setzend? Gertrud Neuhaus hat in ihren Arbeiten stets der strikten Trennung von Kunst und Leben misstraut, jener behaupteten Widersprüchlichkeit von vermeintlich echter Tatsächlichkeit und kunstvoller, damit zugleich künstlicher Fiktion. An den Schauplätzen vorstädtischen Wohnens entdeckte sie schon früh durchkomponierte bisweilen sogar begehbare Bilder als Ausdruck eines – bewusst intendierten oder rein zufälligen – Kunstwollens, einer geheimen, manchmal unausgesprochenen aber auch offenkundigen Stilisierung der heimischen Sphäre. Ihre Fotografien menschlicher Behausungen entlarven dabei die Bühnenwirksamkeit der geschauten Szenarien: Die gereihten Siedlungshäuser mit ihren akkurat umzirkelten Vorgärten, die Fensterbänke mit dem Arrangement der Blumentöpfe unter den sorgfältig gerafften Stors, schließlich die Einblicke in die Beschaulichkeit kleinbürgerlichen Wohnens entbergen in der fotografischen Reproduktion theatralische Stimmungsvaleurs, die – zwischen gemütvoller Heimeligkeit und sublimer Bedrohung oszillierend – die unbestimmte Erwartung eines eintretenden Geschehens, eines sich ausrollendes Handlungsablaufs dramatisch suggerieren.

Es ist nur folgerichtig und konsequent, wenn Gertrud Neuhaus den aufgedeckten Kompositionsmustern der geschauten Wohnwelten eine installative Realität zu verleihen versucht und die wahrgenommenen Versatzstücke und Requisiten in eigenen Bildern nachstellt oder neu arrangiert. Zusammengesetzt aus Fundstücken des Wohnens und seriell hergestellten Massenprodukten konstituieren ihre Installationen kleine Ausschnitte eines denkbaren, aber real nicht existierenden Behaust-Seins, das sich in der Ambivalenz von angenommener Wirklichkeit und gestalteter Künstlichkeit spannungsreich inszeniert. Was sich zunächst wie ein Sammelsurium des Zufälligen ausnimmt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein gewolltes Zusammenspiel wiederkehrender Farben und Formen, das eine traditionelle Gattung der Malerei, das Stillleben, ironisch aufbricht und hinterfragt. Hat nicht jedes Objekt, gleich ob es praktikabler Benutzbarkeit oder dem rein dekorativen Zweck dient, eine Daseinsberechtigung, die es bildwürdig machen kann? Vermögen Komposition und kontextuelle Einbindung auch den banalsten Gegenstand im oder zum Kunstwerk adeln? Es ist eine Welt ver-rückter Maßstäbe und Wertigkeiten, die Gertrud Neuhaus in der Gleichstellung und unparteiischen Anordnung der Sachen einrichtet: das gewichtige Möbel erhält – den anpreisenden Schaubildern eines Werbeprospekts ähnlich – den gleichen Stellenwert wie die Nippesfigur, der Wegwerfartikel die gleiche Bedeutung wie die Grünpflanze. Das reihende Arrangement, das selbstbewusste Defilee der ehedem degradierten, der Entsorgung überantworteten Einrichtungsrequisiten, ist Ausdruck einer paritätischen Behandlung der Gegenstände und damit eine Absage an gesellschaftlich konfektionierte Bewertungen, an Sehgewohnheiten, die graduelle Abstufungen und Bedeutungshierarchien der Betrachtung als Skala anlegen.

 Zugleich nachgestellte Wirklichkeit wie artifizielle Installation spielt Gertrud Neuhaus mit dem Widerspruch von Authentizität und Simulation: Weder als Wohnraum nutzbar noch einem traditionellen Kunstwert verpflichtet, verharren ihre gebauten Bilder im Zustand einer Unentschiedenheit zwischen Innen- und Außenraum, privater und öffentlicher Sphäre, Der Vorhang, als bloßer Stor oder gewebter Stoff, immer wiederkehrendes Motiv in den Arbeiten der Künstlerin, situiert auf den Fotos den Betrachter als Außenstehenden, in den Installationen dagegen als potentiellen Bewohner, der beim Auseinanderziehen der drapierten Stoffbahnen einen unerwarteten Ausblick zu erhoffen wagt. Die Aussicht aber wird enttäuschen, der Vorhang ist bloße Attrappe, er schützt genauso wenig vor dem vermuteten Lichteinfall eines dahinter liegenden Fensters wie die gemalten Glasbausteine eine transparente Stabilität versprechen oder die aus Restmüll gefertigten Beleuchtungskörper den Raum erhellen können. „Alles Theater!“ ist jener augenzwinkernde Kommentar der Künstlerin, die mit den maskierten oder zugepflasterten Konterfeis, über denen sich eine buntfarbene Papiergirlande als karnevalistisches Relikt drapiert, den Betrachter auffordert, Schein und Sein, Ernst und Spiel nicht nur als temporäre Größen einer verordneten Lustigkeit miss zu verstehen, sondern sie als jederzeit wahrnehmbare Konstituenten unser aller Tagtäglichkeit zu entlarven.

zur Eröffnung der Installation Alles Theater! 
im Foyer des Theater Münster, 2006